Waldorfabschluss

Begeisterung für selbständiges und angeleitetes Lernen wecken

„Nicht gefragt soll werden: Was braucht der Mensch zu wissen und können für die soziale Ordnung, die besteht, sondern: Was ist im Menschen veranlagt und was kann in ihm erweckt werden? Dann wird es möglich sein, der sozialen Ordnung immer neue Kräfte aus der herauswachsenden Generation zuzuführen. Dann wird in dieser Ordnung immer das leben, was die in sie eintretenden Vollmenschen aus ihr machen; nicht aber wird aus der heranwachsenden Generation das gemacht werden, was die bestehende Ordnung aus ihr machen will.“

(Rudolf Steiner, Freie Schule und Dreigliederung, Aufsatz vom August 1919).

Welche Art von Abschluss soll die Waldorfschule angesichts dieser Anforderung anbieten?

Die Waldorfschule betrachtet den Menschen als zur Freiheit veranlagt und fördert die umweltoffene Selbstführungsfähigkeit in Denken, Fühlen und Handeln. Die Freiheit der Selbstbestimmung ist zugleich soziale Verantwortung.


Unter welchen Bedingungen entstehen Umweltoffenheit und Selbstführungssicherheit?

Sicher nicht in einem Milieu, das sich zweckrational an den Ansprüchen der heutigen Leistungsgesellschaft orientiert, denn deren Normen und Inhalte wären veraltet, bis der junge Mensch als Erwachsener in seine Lebenswelt tritt. Eine Selektion allein auf Grund von Leistung lehnen wir ab, denn Leistung nur um der Leistung und des eigenen Vorteils willen führt zu einem egoistischen und autistischen Verhalten in den Klassen und in der Gesellschaft. Elternhaus und Schule versuchen gemeinsam günstige Bedingungen für die Entwicklung dessen, was im jungen Menschen veranlagt ist, zu schaffen. Sie dienen der Selbstwerdung und schützen den jungen Menschen vor falschen Ansprüchen der „objektiven Mächte“ Staat und Wissenschaft. Nicht Wissensvermittlung ist die primäre Aufgabe der Waldorfschule, sondern Begeisterung für selbständiges und angeleitetes Lernen zu erhalten und zu entwickeln.


Entsprechend kann ein Abschluss an der Waldorfschule nicht darin bestehen, dass nach dem Muster eines zentralisierten Examens den Schülern nach der Rangfolge der erbrachten Leistungen eine Art Reife zugesprochen wird und die besten Leistungen mit Preisen belohnt werden. Sondern der Heranwachsende leistet etwas beim öffentlichen Eurythmieabschluss der 11. Klasse, dann in der 12. Klasse, indem er seine individuelle Jahresarbeit zu einem selbst gewählten Thema und zusammen mit seiner Klasse ein Theaterspiel zur Darstellung bringt. So stellt er, gemeinsam mit anderen, in einem künstlerischen, handwerklichen, intellektuellen und insbesondere sozialen Prozess eine Realität und eine Person dar, die er selbst sein kann, aber nicht sein muss. – Eine Möglichkeit zu sich selbst.

Auch dies stellt eine Prüfung dar, nur:
Niemand wird dabei mit anderen nach einem von außen angelegten Maßstab verglichen, der Maßstab für jeden Einzelnen kommt aus ihm selbst.

Die Leistung entsteht aus Begeisterung für die Sache.

Im Falle des Theaterspiels oder des Eurythmie-Abschlusses ist die Sache schön und damit zweckfrei, sie dient nur sich selbst.