Das Geheimnis der Farben
Grau färbt sich der Himmel. Für kurze Zeit steht alles still. Alles wartet. Wartet auf den Wind, der die ersten Tropfen bringt. Die Tropfen warten nicht. Sie prasseln auf die durstige Erde, auf die fliehenden Menschen und auf die vergessene Wäsche auf der Leine. Bäche fließen die Straße entlang und spülen die Pollen und die abgefallenen Blüten in die vergitterten Kanallöcher, tief unter die Erde, in die unsichtbaren vernetzten Gänge, in die Unterwelt der Städte.
„Ja, ich bin mächtig“, denkt sich der Regen. „Ohne mich wäre alles verdurstet, vertrocknet und verstaubt. Ich bringe die Farben auf die Erde. Ohne mich würden die Blumen nicht in allen Farben leuchten und die Bäume nicht duften.“
Selbstsicher und leidenschaftlich schont er kein Blatt, kein Dach und keinen Regenschirm. Doch auch das größte und heftigste Gewitter hat einmal ein Ende.
„Ja, ich bin mächtig“, denkt sich der Wind und treibt die Wolken auseinander.
Die ersten Sonnenstrahlen lugen verstohlen hinter den Wolken hervor. Sie bügeln die zerknitterten Blumen und trocknen die Flügel der Schmetterlinge.
„Ja, wir sind mächtig“, denken sich die Sonnenstrahlen. „Ohne uns wäre die Welt nass, grau und traurig. Wir bringen die Farben auf die Erde und die Freude in die Herzen der Menschen.
Nun treffen die Sonnenstrahlen auf die letzten Tropfen des Regens. Erstaunt schauen sie auf die Erde hinunter. Sie schauen durch einen bunten Farbenteppich und sehen die Erde in sieben Farben leuchten.
„Das muss das Lächeln der Liebe sein“, denken sich die Regentropfen.
„Die Liebe ist die Quelle der Farben“, denken sich die Sonnenstrahlen.
Und die Liebe?
Die Liebe zaubert Farben und hütet ihr Geheimnis tief unter der Wasseroberfläche. In die Innenwand der Muscheln zeichnet sie in Regenbogenfarben ihre Geschichten auf. Für jeden Menschen seine eigene.