Die Erziehung in der Oberstufenzeit geschieht in der Waldorfschule in zweifacher Weise: Zum einen lernen die Schüler die ihrem Alter entsprechenden Inhalte, auf der anderen Seite geht es um die zunehmende Individualisierung der jungen Menschen. In welcher Art und Weise Schüler bestimmte allgemeine Anforderungen individuell begreifen und erfüllen können oder wollen, muss jeweils individuell betrachtet werden.
Gerade in der Pubertätszeit sind die Lebenswege alles andere als nur geradlinig. Typisch sind Phasen der Lustlosigkeit, des Übermutes, der Kritiksucht oder Unsicherheit sowie die einseitige Verehrung eines Idols. Nur wenn sich die Willens-, Gefühls- und Denkkräfte der Schüler richtig entwickeln können, sind diese Phasen vorübergehende Stimmungen und bestimmen nicht das gesamte Leben des Jugendlichen.
Von der 9. Klasse an übernimmt ein Oberstufenlehrer jeweils eine Klassengemeinschaft als Klassenbetreuer. Der Unterricht der Oberstufe geht von der Entwicklung der Schüler aus, die sich im Bildungsplan der Waldorfschulen wiederspiegelt. Die Schüler lernen weiterhin in Epochen, haben jetzt aber auch im Hauptunterricht Fachlehrer. Ein Ideal der Oberstufenlehrer ist es, in einer erfrischenden, begrifflichen und wissenschaftlichen Form die mehr bildhaft angelegten Inhalte der Klassenlehrerzeit aufzugreifen, zu vertiefen und zu erweitern.
An der Objektivität und Exaktheit der Mathematik und Naturwissenschaften schulen die Jugendlichen ein präzises, vorurteilsfreies Denken. Indem sie intensiv Gedanken aus der Literatur, Geschichte, aus sozialen und politischen Zusammenhängen bewegen, entwickeln sie ein dem Alter entsprechendes bewusstes Weltverhältnis – also ein gesundes Gefühl für den Zusammenhang menschlicher Schicksale und für Verantwortung.
Die sensible Entwicklung der Jugend soll nicht durch frühzeitige Spezialisierung in einseitige Bahnen geraten. Allerdings gehören zur Oberstufe zahlreiche Praktika, die auch eine Art „Fachunterricht“ sind. Dabei geht es nicht um eine abstrakte Lebensvorbereitung, sondern um das Leben selbst. Dazu gehören Landwirtschaftpraktikum (9. Klasse), Feldmess- und Betriebspraktikum (10. Klasse) und Sozialpraktikum (11. Klasse). Ebenso bedeutsam sind Handwerk und Kunst im Fachunterricht. Beim Korbflechten, Schneidern, Schreinern, Bildhauen, Malen, Zeichnen, in Musik, in der Eurythmie und beim Kupfertreiben können wichtige menschliche Kräfte entwickelt und gestärkt werden.
Bis zur 12. Klasse gehen die Waldorfschüler einen gemeinsamen Lernweg. Dann können sich in der 13. Klasse Schüler, die das Abitur anstreben, noch stärker auf diesen Abschluss vorbereiten. Das Abitur kann im 13. Schuljahr absolviert werden, wobei die gezielte Prüfungsvorbereitung dazu bereits ab der 12. Klasse parallel zum Waldorfunterricht stattfindet. Der Realschulabschluss ist am Ende der 12. Klasse möglich. Ab der 9. bis zur 12. Klasse ist für Schulabgänger jeweils zum Ende eines Schuljahres die Gleichstellung mit dem Hauptschulabschluss möglich.